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Martin LorenzonDer Ombudsman der Privatversicherung und der Suva Martin Lorenzon (Bild) hat von Professor Dr. iur. Walter Fellmann ein neutrales Gutachten zu ausgewählten Versicherungsklauseln von Schweizer Epidemieversicherungen erstellen lassen. Walter Fellmann kommt in seinem Gutachten unter anderem zum Schluss, dass die Feststellung einer Pandemie durch die Weltgesundheitsorganisation WHO in der Schweiz keine rechtlichen Auswirkungen hat. Nach seiner Beurteilung sind verschiedene Vertragsklauseln der Schweizer Epidemieversicherungen, die im Pandemiefall einen Leistungsausschluss vorsehen, ungewöhnlich oder unklar.

In der Schweiz gibt es nur die Epidemie, es gibt keine «nationale Pandemie»
Das vom Ombudsman der Privatversicherung und der Suva Martin Lorenzon in Auftrag gegebene Rechtsgutachten von Professor Dr. iur. Walter Fellmann kommt zum Schluss:

  1. Von einer Epidemie spricht man, wenn eine Infektionskrankheit stark gehäuft, örtlich und zeitlich begrenzt auftritt. Bei einer Pandemie handelt es sich hingegen um die Ausbreitung einer bestimmten Infektionskrankheit in vielen Ländern und Kontinenten.
  2. Der Oberbegriff ist der Begriff der Epidemie, die Pandemie ist bloss ein Anwendungsfall. Nach dem Schweizer Epidemiengesetz (EpG) ist der Ausbruch einer übertragbaren Krankheit, welche aufgrund ihrer Ausbreitung die öffentliche Gesundheit in der Schweiz gefährdet, immer eine Epidemie. Es gibt keine "nationale Pandemie".
  3. Die Feststellung des Generaldirektors der Weltgesundheitsorganisation WHO, bei einer bestimmten Infektionskrankheit handle es sich um eine Pandemie, hat in der Schweiz keine rechtlichen Auswirkungen. Die WHO-Phasen haben in erster Linie globale Bedeutung und sind nicht automatisch Auslöser für Massnahmen in der Schweiz.
  4. Rechtliche Auswirkungen in der Schweiz hat nur die Feststellung der WHO, dass eine "gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite" bestehe. Sie ist nach Art. 6 Abs. 1 lit. b des Epidemiengesetzes ein Grund für die Annahme einer besonderen Lage in der Schweiz. Dies ist aber nur der Fall, wenn durch diese gesundheitliche Notlage auch in der Schweiz eine Gefährdung der öffentlichen Gesundheit droht, was die zuständigen Behörden in der Schweiz autonom entscheiden. Ob sich die gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite nach Einschätzung der WHO später zu einer Pandemie ausweitet, hat für die Rechtslage in der Schweiz keine Bedeutung.
  5. Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass die Ursache der Epidemie für die Deckung ihrer Folgen in der Schweiz überhaupt von Bedeutung ist. Ob die Räder in der Schweiz aufgrund eines "einheimischen Erregers" oder infolge der Einschleppung oder der drohenden Einschleppung eines "ausländischen Erregers" stillstehen, kann in Bezug auf die aus einem Betriebsunterbruch entstehenden Kosten keine Bedeutung haben.
  6. Die Annahme, dass innerhalb eines überschaubaren Zeitrahmens nur ein geringer Teil der gegen die Gefahr einer Epidemie versicherten Personen vom befürchteten Ereignis betroffen ist, so dass der individuell eingetretene Schaden durch die Beiträge der Teilnehmer der Risikogemeinschaft beglichen werden kann, erweist sich im Fall der Covid-19-Infektionskrankheit als falsch. Angesichts der Unmöglichkeit einer einigermassen zuverlässigen Berechnung der finanziellen Folgen mangels Statistiken qualifiziert sich die Versicherung von Betrieben gegen die Auswirkungen von Epidemien als eigentliches Wagnis.
  7. Mangels einer eigenständigen AGB(Allgemeine Geschäftsbedingungen)-Gesetzgebung beurteilen Rechtsprechung und Lehre in der Schweiz die Zulässigkeit von AGB in erster Linie anhand der Bestimmungen des Obligationenrechts. In Anwendung der einschlägigen vertragsrechtlichen Grundsätze umfasst die AGB-Kontrolle in der Praxis folgende Kontrollinstrumente: die Konsenskontrolle, die Auslegungskontrolle und die vom Bundesgericht noch nicht anerkannte (offene) Gültigkeitskontrolle. Hinzu tritt neuerdings die lauterkeitsrechtliche (offene) Inhaltskontrolle. Dieser Kontrolle unterliegen auch Allgemeine Versicherungsbedingungen AVB. Hinzu tritt hier die Regelung in Art. 33 des Versicherungsvertragsgesetzes VVG. Danach sind Ausschlüsse nur gültig, wenn sie "in bestimmter, unzweideutiger Fassung" erfolgen. Zeigt sich im Rahmen der Auslegungskontrolle einer Klausel, dass diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, ist der Ausschluss nicht gültig.
  8. Der Ausschluss von "Epidemien und Pandemien" von der Deckung dürfte gültig sein. Der Ausschluss von Schäden "infolge Krankheitserregern, für welche national oder international die WHO-Pandemiestufen 5 oder 6 gelten", erweist sich hingegen im Rahmen der Konsenskontrolle als ungewöhnlich. Er wird daher bei einer Globalübernahme von AVB nicht Bestandteil des Versicherungsvertrags. Die Auslegungskontrolle zeigt ferner, dass es ihm an der nach Art. 33 VVG vorgeschriebenen "bestimmten, unzweideutigen Fassung" fehlt.


Vermittlungen laufen, Rechtslage bleibt ungeklärt
Auf der Grundlage des Gutachtens von Professor Dr. iur. Walter Fellmann führt der Ombudsman der Privatversicherung und der Suva Martin Lorenzon Vermittlungsgespräche zwischen Versicherungen, die Epidemieversicherungen verkauft haben, und Versicherten, die von der Coronakrise betroffen sind. Während den Verhandlungen bestätigt sich, dass die Rechtsfragen unter Juristen nach wie vor sehr umstritten sind.
Martin Lorenzon urteilt: «Ich bin überzeugt, mit der Veranlassung des Gutachtens von Professor Dr. iur. Walter Fellmann einen vermittelnden Beitrag dazu geleistet zu haben, dass für einige Versicherte entgegenkommende Lösungen möglich geworden sind. In anderen Fällen dürfte letztlich das Bundesgericht darüber entscheiden, ob die strittigen Deckungsablehnungen im Einzelfall zulässig sind oder nicht.»



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